Balkanismus: Worte zur Wortwahl

Perspektiven

Balkanismus: Worte zur Wortwahl

Begriffe wie ‚Balkan‘ oder ‚Balkanroute‘ erinnern uns heutzutage vor allen Dingen an die Migrationsbewegungen der Jahre 2015 und 2016. Wir denken an eine Region in Südosteuropa, an der einen Seite vom Mittelmehr und an der anderen vom so genannten Balkangebirge begrenzt. Aber der ‚Balkan‘ ist viel mehr als eine geographische Region oder ein Sammelbegriff für verschiedene Länder Südosteuropas, er ist ein Raum, der mit vornehmlich negativen Eigenschaften – mit Attributen wie Krieg, Rückständigkeit, Chaos, Wildheit und Barbarei in Verbindung gebracht wird.

Auf der Grundlage dieser metaphorischen Verwendung des Begriffs entwickelte sich im zwanzigsten Jahrhundert ein spezifischer Machtdiskurs, dessen Anwendung in der realen Welt der Politik die Einstellungen und Handlungen gegenüber dem ‚Balkan‘ noch heute prägt – der Balkanismus.

Typisch Balkan? – Vorurteile, Klischees und ein gefährlicher Machtdiskurs

Der ‚Balkan‘ kam als umfassende Beschreibung eines geographischen und politischen Raumes mit dem Verlust der Osmanischen Gebiete auf europäischem Boden im Verlauf der so genannten ‚Balkankriege‘ von 1912/13 auf. Damals musste ein neuer Begriff für die Region gefunden werden, die vormals als das „osmanische Europa“ bezeichnet wurde. Mit dem Ende des Osmanischen Reiches in Europa entstanden eine Reihe neuer Staaten. Dies führte dazu, dass der ‚Balkan‘ beziehungsweise die ‚Balkanisierung‘ schnell mit der Parzellierung oder Zersplitterung großer, politischer Einheiten gleichgesetzt wurde. Damit einher ging die Vorstellung von einer möglichen Rückkehr zur Stammesgesellschaft und damit Primitivität und Rückständigkeit. Spätestens das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand im Juni 1914 in Sarajevo, das den 1. Weltkrieg auslöste, stigmatisierte den ‚Balkan‘ fortan als „Brutstätte der Gewalt“ und als „Pulverfass Europas“. Diese Begriffe sind bis heute vielen geläufig.

Interessant ist, dass der Begriff der ‚Balkanisierung‘ in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg in seiner Bedeutung erweitert und vollkommen aus seinem geographischen Zusammenhang gelöst wurde. Er beschrieb fortan die Folgeprobleme der Entkolonialisierung und die damit einhergehenden frustrierenden Auseinandersetzungen in den ehemaligen Kolonien, die zu unabhängigen Staaten wurden. Der Begriff funktionierte zu dieser Zeit als generelle Beschreibung von Unzuverlässigkeit, Lethargie, Korruption, Verantwortungslosigkeit etc. Die Zerfallskriege in Jugoslawien in den 1990er Jahren dann, ließen die alten Vorurteile und Stereotype über den ‚Balkan‘ wiederaufleben. Sie prägten sowohl den Ton der medialen Berichterstattung, als auch politischer und gesellschaftlicher Diskurse. Der Krieg auf dem ‚Balkan‘ war eine Schande für das sonst ‚friedliche‘ Europa.

Doch es blieb nicht bei diesen Klischees und Vorstellungen über den ‚Balkan‘. Auf ihrer Grundlage entwickelte sich ein machtpolitischer Diskurs, der als Balkanismus bezeichnet wird.  Geprägt wurde er von der bulgarisch-amerikanischen Historikerin Maria Todorova, die verschiedene ‚Balkanbilder‘ in ihrem Buch „Imagining the Balkans“ kritisch einordnet und beschreibt, dass Südosteuropa als quasikoloniales Gebiet der westlichen europäischen Staaten schon immer mit Überheblichkeit betrachtet wurde. Diese Überheblichkeit halte sich auch in heutigen politischen, gesellschaftlichen und journalistischen Debatten und beeinflusse das allgemeine Image der südosteuropäischen Gesellschaften.

Todorova bezieht sich in ihrer Argumentation auf Edward Said, der den Begriff des ‚Orientalismus‘ prägte. In seinem bekannten Werk „Orientalism“ von 1978 beschreibt er den eurozentrischen, westlichen Blick auf die Gesellschaften des Nahen Ostens, bzw. die arabische Welt. In der Beobachtung des so genannten ‚Orients‘ seien implizit angelegte Wertmaßstäbe der Forscher*innen angesetzt worden, die zu einem verzerrten Bild führten, das auf einen scheinbar unveränderbaren Kern, eine Essenz der ‚orientalischen‘ Gesellschaft verwies. Er beschreibt diesen eurozentrischen Blick als einen Herrschaftsstil, der seine Legitimität von der vermeintlichen Andersartigkeit des ‚Orients‘ ableitete, aus der sich im Umkehrschluss eine Vorstellung der eigenen Überlegenheit verknüpfte. Der ‚Orient‘ wurde so zu etwas dem ‚Okzident‘ kategorial entgegengesetztem, dem negativen Pendant zur aufgeklärten und zivilisierten Welt.

In Anlehnung an Said, wird der ‚Balkan‘ von Todorova als Zwischenraum zwischen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ bezeichnet. Aus Sicht des ‚Westens‘ war er lange „Europäisches Osmanisches Reich“ und aus der Perspektive des Osmanischen Reiches „Osmanisches Europa“. Dieses historische Beispiel macht die Rolle als Zwischenraum besonders deutlich.

Die historisch gewachsenen Vorurteile und Klischees, die eng mit dem Begriff des ‚Balkan‘ und dem daraus entstandenen Machtdiskurs – dem Balkanismus – verwoben sind, prägen noch heute die Vor- und Darstellung der Staaten und Gesellschaften Südosteuropas. So titelte beispielsweise „Die Presse“ am 22.01.2016: „Britischer EU-Austritt? Dann droht die Balkanisierung Europas“.  In einem Artikel des „Handelsblatts“ vom 07.08.2019 ist mit Blick auf die Entstehung eigener Technologien in China und Russland sogar die Rede von einer „Balkanisierung des Internets“. Unter dem Titel „Balkanländer als EU-Kandidaten – Das Pulverfass im Südosten“ berichtet „Deutschlandfunk Kultur“ am 16.05.2018. „Westbalkan. Zündeln am Pulverfass“ ist die Überschrift eines Artikels von „Zeit Online“ vom 29.09.2021 zu wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Serbien und dem Kosovo. Zum EU-Beitritt Kroatiens heißt es bei NTV am 01.07.2013 „Der Hinterhof Europas kommt in die EU“. Diese Liste ließe sich endlos weiterführen und könnte um etliche Beispiele z.B. aus Film und Literatur ergänzt werden.

Der 'Balkan' als migrationspolitisches Laboratorium der EU

Mit den Migrationsbewegungen entlang der so genannten ‚Balkanroute‘ im langen Sommer der Migration 2015/16, rückte der ‚Balkan‘ einmal mehr ins Zentrum des politischen Interesses Europas. Der formalisierte Korridor, der sich im Sommer 2015 entwickelte, rückte die Region aus der Europäischen Peripherie mitten hinein ins Zentrum migrationspolitischer Debatten. Seit 2016 hat sich das Eurpäische Migrations- und Grenzregime im Südosten Europas weitgehend stabilisiert. Mehr noch: Entlang der so genannten Balkanroute sind die Zunahme und Normalisierung von Zäunen und Mauern, eine erhöhte Gewaltbereitschaft durch Polizeibeamt*innen in Grenzregionen und regelmäßig vorkommende Pushbacks zu beobachten. Die Transitmigrant*innen, die 2015 und 2016 noch durch den ‚Korridor‘ reisen konnten sind nun gefangen in der Mobilität, stets auf der Suche nach geeigneten und sichereren Migrationsrouten. Die Staaten Südosteuropas wurden so zu einer Art ‚Auffangbecken‘ für Migrant*innen und damit zu einem ganz wesentlichen Bestandteil der europäischen Migrationskontrolle. Sie sind zugleich ‚innen‘ und ‚außen‘, zentral für die europäische Abschottungspolitik und doch nicht Teil der Europäischen Gemeinschaft; verantwortlich für eine Politik, die Migration gen Nord- und Westeuropa zu verhindern versucht und gleichzeitig von ihr Betroffene (die Bewegungsfreiheit ist auch für Menschen aus den meisten Ländern Südosteuropas eingeschränkt). Zudem befinden sich die meisten Staaten der Region seit rund zwanzig Jahren in einem Prozess der Europäisierung, also der Annäherung an europäische Strukturen. Kroatien ist seit 2013 als erster Westbalkan-Staat EU-Mitglied, Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Serbien sind Beitrittskandidaten, der Kosovo „potentieller Beitrittskandidat“. 

Durch die Beitrittsperspektive der Staaten und die damit zusammenhängenden Verhandlungen ergibt sich eine besondere Abhängigkeit: Fortschritte und Zugeständnisse im Bereich des EU-Beitritts, beispielsweise Visaliberalisierungen, werden häufig an migrationspolitische Bedingungen geknüpft. So können Kooperationen im Bereich der Grenzkontrolle und des Migrationsmanagements erpresst werden. Im Kontext der EU wurde der so genannte Balkan als politisches Objekt konstruiert, das eine Europäische Unterstützung und „guidance“ benötigt. Als migrationspolitisches Laboratorium der EU werden obenbeschriebene Klischees reproduziert.

Wir halten fest: Der eurozentrisch-westlich geprägte Blick auf den so genannten ‚Balkan‘ der letzten Jahrhunderte prägt noch heute die Wahrnehmung der Region und damit das Leben der südosteuropäischen Gesellschaften. Gerade mit Blick auf die Kooperationen mit der EU im Bereich der Migrationskontrolle und Abschottung ist das heutzutage zu beobachten. So ist es kaum überraschend, dass mit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens mit einer Welle der ‚Armutsmigration‘ gerechnet wurde, dass die Beitrittsverfahren der so genannten ‚Westbalkanstaaten‘ zur Europäischen Union sich bereits über zwanzig Jahre schleppend hinziehen und immer mehr von ihrer Kooperationsbereitschaft mit Blick auf den ‚Schutz‘ der EUropäischen Außengrenzen abhängig gemacht werden.

Balkanbrücke – Warum also dieser Name?

Diese Frage stellt sich zurecht. Im so genannten „Sommer der Migration“, hatte sich im Südosten Europas ein relativ sicherer, auch für Familien, sowie kranke und ältere Menschen überwindbarer Korridor entwickelt, der auch durch die Unterstützung der Staaten entlang der Route gestaltet und aufrechterhalten wurde. Die Kämpfe und Proteste der Geflüchteten und ihrer Unterstützer*innen und vor allen Dingen der „March of Hope“ vom 5. September 2015, hatten den Druck auf die Mechanismen des europäischen Migrationsregimes derart erhöht, dass das Dublin-System, einer der wichtigsten Grundpfeiler der europäischen Migrationskontrolle, faktisch außer Kraft gesetzt wurde. Heute, mehr als sechs Jahre nach dem so genannten „Sommer der Migration“ und der Kämpfe um Bewegungsfreiheit, ist kaum noch etwas von der Aufbruchsstimmung von damals geblieben. Sicherheitspolitische Debatten wie der Schutz der Grenzen, die Eindämmung  von Migration und die Angst vor Terrorismus haben die „Willkommenskultur“ von damals weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Im Gedächtnis der Migrant*innen selbst und auch vieler antirassistischer Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen bleibt jedoch nicht eine „Flüchtlingskrise“, sondern der lange Sommer der Migration, der Geschichten von erfolgreichen Kämpfen um Bewegungsfreiheit und Gerechtigkeit erzählt und zeigte, dass eine andere Politik in Europa möglich wäre. An diese Erfahrungen möchten wir anknüpfen: Wir möchten Stimmen von Menschen aus der Region einfangen, ihre Projekte für ein deutschsprachiges Publikum sicht- und hörbar machen und die Sonderstellung Südosteuropas im EUropäischen Raum (innerhalb der EU-Grenzen, aber nicht Mitglied!) problematisieren.

Mit unseren Aktionen und den verschiedenen Facetten unserer Arbeit möchten wir an die Zeit des Aufbruchs von 2015 und 2016 erinnern und den Menschen zur Seite stehen, für die sich seither die Situation nicht verbessert, sondern sogar noch verschlechtert hat. Wir möchten dazu beitragen, dass Menschen, die den Begriff ‚Balkan‘ hören in Zukunft ein anderes Bild vor Augen haben: Ein Bild von solidarischer Zusammenarbeit im Kampf gegen die rassistische Abschottungspolitik der Europäischen Union.

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