Folgen der Abschottungspolitik
WORUM GEHT´S?
Die Abschottungspolitik der EU entlang der sogenannten Balkanroute hat viele Gesichter. Sie manifestiert sich in den gefängnisartigen Camps von Lesbos bis Bihać. Sie zeigt sich auch in der Polizeigewalt, die tagtäglich gegen Geflüchtete an den Grenzen und innerhalb der Länder von Griechenland bis Slowenien ausgeübt wird. Und sie zeigt sich in der Kriminalisierung von Unterstützungsstrukturen. Diese Krise ist dabei kein Zufall – keine Konsequenz gutgemeinter aber unzulänglicher Hilfe, sondern politisch gewollt und bewusst herbeigeführt von Verfechter*innen der “Festung Europa” in den Ländern Südosteuropas und dem Rest der Europäischen Union.
Die menschlichen Folgen dieser Abschottungspolitik sind unermesslich – Hunger, Krankheit, Gewalt, und die permanente Verletzung menschlicher Würde. Wir, als Menschen und als Europäer*innen, tragen eine Verantwortung für die Politik, die von unseren gewählten Vertreter*innen betrieben wird und wollen die Situation auf der „Balkanroute“ nicht länger so hinnehmen. Deshalb treten wir ein für eine Solidarität ohne Grenzen und Zäune!
Auf dieser Seite könnt Ihr euch einen Überblick über die humanitären Folgen der europäischen Abschottungspolitik auf der „Balkanroute“ verschaffen.
Stand: Mai 2020
Sprachnachrichten von der "Balkanroute"
Mit dem Audioformat, “Sprachnachrichten von der Balkanroute”, werden Stimmen von Menschen übermittelt, die unfreiwillig auf der „Balkanroute“ festhängen und das Ziel haben, ein neues Leben in Sicherheit in verschiedenen Teilen Europas anzufangen. Die Sprachnachrichten kommen von Personen, die zum Zeitpunkt der Sprachaufnahmen größtenteils in Bosnien und Herzegowina waren.
Die Berichte handeln unter anderem von Flucht, Rassismus und Polizeigewalt. Alle Nachrichten erzählen von Situationen, in denen die Personen nicht sein müssten, wenn es sichere Flucht- und Migrationsmöglichkeiten gäbe.
Sprachnachrichten von der "Balkanroute"
Wenn ihr Rückfragen oder Anmerkungen habt, schreibt gerne an AudioVoices21@riseup.net
Danke an Ahmed, Damyen, Mohammed, Nasrin, Pariya, Sempre Solo, Zaki und Zied, die uns Teile ihrer Geschichten erzählt haben. Danke an Derya Yıldırım, die dieses Audioformat musikalisch untermalt. Und danke an alle, die an diesem Audioformat in weiteren Funktionen mitgearbeitet haben.
An dieser Stelle wollen wir noch auf folgende Initiativen verweisen:
Border Violence Monitoring Network
Kompas 071 Sarajevo
Kampagne “Berichte von den EU-Außengrenzen” von Naturfreundejugend Berlin
„Sprachnachrichten von der Balkanroute“ von collective documentation ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
HOTSPOTS UND CAMPS
Aufgrund nationaler Grenzregime und Polizeigewalt sind Flüchtende immer wieder gezwungen, ihre Routen zu verändern. Oft müssen sie monatelang in Grenzregionen ausharren, in denen es an formellen Strukturen zu ihrer Versorgung fehlt.
HOTSPOTS UND CAMPS
An sogenannten “Hotspots” bilden sich informelle Camps, vor allem in Hauptstädten oder in der Nähe wichtiger Grenzübergänge – von den “Baracken” in Belgrad bis zu den Busstationen in Bihać und Sarajevo. In diesen sogenannten “Squats” fehlt es an dem Nötigsten – es gibt keine medizinische Versorgung, keine oder nur improvisierte Waschmöglichkeiten und selbst Essen und Kleidung sind oft rar. Zwar sind Geflüchtete in Squats der Polizei, Rechtsradikalen und Krankheiten schutzlos ausgeliefert, jedoch ermöglichen diese, oft von Geflüchteten selbst-organisierten, Strukturen ein Mindestmaß an Autonomie.
Es dauert selten lange bis die örtlichen Behörden versuchen, diesen informellen Strukturen Einhalt zu gebieten. Polizei und örtliche Flüchtlingsbehörden beginnen mit dem Aufbau offizieller Camps, meist in Kooperation mit großen internationalen NGOs wie dem Roten Kreuz oder IOM. Diese versprechen zwar ein Mindestmaß an materieller und medizinischer Versorgung und teilweise sogar Bildungsangebote, doch Korruption und Gewalt sind omnipräsent. Zudem liegen die Camps oft kilometerweit von Stadtzentren und Einkaufsmöglichkeiten entfernt, was für die Schutzsuchenden die eigene Versorgung fast verunmöglicht.
Zudem werden Geflüchtete mit strengen Ausgangsbeschränkungen belegt – ganz nach dem Motto “aus den Augen aus dem Sinn”. Anstatt Schutz zu bieten werden Camps häufig Ziel polizeilicher und rechtsradikaler Repression. Während der Covid-19 Pandemie häuften sich zudem Berichte von Security-Arbeiter*innen und Polizist*innen, die auch in den Camps gewalttätig gegenüber Geflüchteten wurden.
The Game
Noch gefährlicher als das Leben in den Camps und Squats ist das Überqueren von Grenzen. Seit den Grenzschließungen 2015 sind unautorisierte Grenzübertritte – sogenannte Games – die einzige Möglichkeit, in die Europäische Union zu kommen.
The Game
Obwohl Games oft nicht an offiziellen Grenzstationen passieren, ist es wichtig zu betonen, dass sie keinesfalls illegal sind: Wer Asyl sucht, hat das Recht internationale Grenzen zu überschreiten.
Je nach Struktur der Grenze funktionieren Games unterschiedlich. Am “Anfang” der „Balkanroute“ – zwischen der Türkei und Griechenland – sind Geflüchtete oft gezwungen, sich auf nicht seetüchtige Schlauchboote zu begeben, um auf die griechischen Inseln zu gelangen. Ähnlich wie auf der zentralen Mittelmeer-Route kommt es dabei häufig dazu, dass Boote kentern und Menschen ertrinken. Entlang nicht befestigter Landgrenzen, insbesondere zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien, müssen Geflüchtete mehr als eine Woche durch die Berge der Grenzregion wandern, meist bei Nacht und mit minimalem Gepäck. Dabei sind Geflüchtete nicht nur schwierigen Witterungsverhältnissen und physischer Erschöpfung ausgesetzt, sondern sind auch von zurückgebliebenen Minen aus den Jugoslawienkriegen bedroht. Um den Zaun an der serbisch-ungarischen Grenze zu überwinden, bleibt Geflüchteten wiederum oft nichts anderes übrig, als sich in stickige Lastwagen zu begeben oder an Frachtzüge anzubinden.
Die Schließung und folgende Militarisierung der Grenzen zwingt Flüchtende dazu, immer riskantere Routen einzuschlagen und ihr Schicksal in die Hände von Schleuser*innen zu legen.
PUSHBACKS
Grenzschutzbehörden, ausgestattet mit modernster Militärtechnologie, betreiben eine systematische Pushback-Politik entlang der „Balkanroute“. Pushbacks sind unrechtmäßige, oft kollektive Abschiebungen ohne jeden Rechtsschutz.
Seit der Genfer Flüchtlingskonvention sind solche Abschiebungen illegal nach internationalem Recht, da sie nicht sicherstellen, dass Geflüchtete nicht in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Verfolgung droht (das sogenannte “Non-Refoulement”-Prinzip).
PUSHBACKS
Trotz dieser Rechtslage haben Organisationen wie das Border Violence Monitoring Netzwerk (BVMN) Pushbacks an fast jeder Grenze entlang der „Balkanroute“ dokumentiert. Pushbacks laufen nach einem sich wiederholden Schema ab. Grenzschutzbehörden – die Polizei, das Militär, oder auch paramilitärische Gruppierungen – nehmen Geflüchtete fest, ohne ihnen die Möglichkeit zu gewähren, sich um Asyl zu bewerben.
Bei der Festnahme wird oft exzessive Gewalt eingesetzt: Schlagstöcke, Elektroschocker und sogar Schusswaffen. Häufig werden die Geflüchteten dann einige Stunden “verwahrt”, oft in stickigen Räumlichkeiten, ohne Toiletten und Wasser, oder in Transportern, in denen die Luft dünn wird, wenn viele Geflüchtete stundenlang dicht an dicht ausharren müssen. Schließlich werden die Geflüchteten zurück auf die andere Seite der jeweiligen Grenze gebracht. Hierbei kommt es nicht selten zu erneuter Gewaltanwendung sowie dem Diebstahl persönlicher Gegenstände, insbesondere Handys, Geld und Kleidung.
Bis März 2021 hat BVMN für einen Zeitraum von 4 Jahren mehr als 1.000 Pushbacks dokumentiert, von denen mehr als 15.000 Geflüchtete betroffen waren – die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Dennoch hat sich nichts an der Situation vor Ort verändert. Die EU schweigt und unterstützt Pushbacks indirekt sogar durch Frontex-Polizist*innen und finanzielle Unterstützung für den Grenzschutz. Nicht nur sind diese Pushbacks per Definition illegal, im Juni 2020 erklärte Amnesty International, dass Methoden der kroatischen Polizei an Folter grenzen.
Kriminalisierung von Hilfe
Kriminalisierung von Hilfe
Nicht nur Geflüchtete werden systematisch kriminalisiert, auch lokale und internationale Unterstützer*innen müssen entlang der „Balkanroute“ polizeiliche Repression fürchten.
In besonders extremen Fällen, wie dem von Sara Mardini, werden Unterstützer*innen direkt gerichtlich für Menschenschmuggel belangt. Mehrere Länder, insbesondere Ungarn, haben scharfe Gesetze gegen viele Formen der Unterstützung für Geflüchtete – einschließlich lebensnotwendiger Essensverteilung – verabschiedet.
Außerhalb des gesetzlichen Rahmens sind Unterstützer*innen permanenten Schmutzkampagnen ausgesetzt. Sie werden häufig und arbiträr von der Polizei gestoppt und müssen fürchten, dass ihre Telefongespräche abgehört werden. All das führt zu einem Klima der Angst und Unsicherheit.
Es erschwert das Engagement von Anwohner*innen und die Arbeit kleiner Organisationen, die in Squats aktiv sind, enorm und schadet damit direkt den Schutzsuchenden. So ist die Kriminalisierung von Hilfe ein zentrales Instrument zur gezielten Abschreckung Flüchtender.
Frontex
Auf der Suche nach einer europäischen Antwort auf die Situation entlang der “Balkanroute” stößt man schnell auf den Namen “Frontex” – “Grenzschutz”, nicht humanitäre Hilfe, ist der gemeinsame Nenner, auf den sich die Mitgliedstaaten der EU einigen können. Die “Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache” wird eingesetzt zur Unterstützung von Mitgliedstaaten bei der “Verteidigung” der EU-Außengrenzen. Sie ist anwesend in Ungarn, dessen Grenzschutz-Politik im Widerspruch mit europäischen Grundsätzen und Gesetzen steht. Sie ist anwesend in Griechenland, an dessen Grenze zur Türkei mit Tränengas und scharfer Munition auf Flüchtende geschossen wird. Sie ist anwesend in Kroatien, wo sie mit Hilfe von Überflügen Flüchtende aufspürt und deren Standort an die kroatische Grenzpolizei weitergibt.
Unweigerlich führt die Anwesenheit von Frontex an den europäischen Außengrenzen zur Verstrickung der Agentur in illegalen Pushback-Praktiken. Frontex´ Verstrickungen manifestieren sich in vielerlei Hinsicht: seit Jahren schon häufen sich Vorwürfe, dass Frontex-Beamt*innen selbst an Pushbacks teilgenommen haben sollen.
Frontex
Berichte aus dem Jahr 2014 zum Beispiel belegen, dass Frontex an Missionen beteiligt war, in denen die griechische Küstenwache auf Boote mit Geflüchteten schoss, was zum Tod von Geflüchteten sowie schweren Verletzungen führte. Häufiger noch kooperiert Frontex mit nationalen Polizeibehörden, deren Verstrickung in illegale Abschiebungen belegt ist (Ungarn, Griechenland, Kroatien, u.a.). In diesen Fällen sind es Informationen, die von Frontex z.B. durch Überflüge gesammelt werden und illegale Abschiebungen ermöglichen.
FRONTEX ist nach seinem Mandat dazu verpflichtet, die Fundamentalen Rechte der EU zu respektieren. Doch diese Verpflichtung wird weder intern noch in Kooperation mit nationalen Polizeibehörden eingehalten. Interner Rechtsschutz existiert praktisch nicht. Kontrollgremien, wie die Ombudsperson für Fundamentale Rechte, sind chronisch unterbesetzt und haben nur sehr eingeschränkte Befugnisse. Dazu kommt, dass Frontex-Beamt*innen in ihren Funktionen weitreichende Immunität genießen, die auch vom Europäischen Gericht für Menschenrechte nicht eingeschränkt werden können, da die EU nicht Mitglied des Europarates ist (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat oder dem Rat der EU). Falls Frontex Mitarbeiter*innen Verstöße von anderen nationalen Beamt*innen auffallen, werden diese zwar regelmäßig an die nationalen Gerichte weitergeleitet. Doch dort verlaufen die Beschwerden meist im Sande. Trotz zahlreicher von Frontex selbst gesammelter Beweise über Menschenrechtsverstöße nationaler Polizeibehörden wurde bislang keine der vielen Kooperationen beendet. Kurzum: Frontex bietet keinerlei effektiven Rechtsschutz für Geflüchtete und beteiligt sich aktiv an Menschenrechtsverletzungen an der europäischen Außengrenze.
In den kommenden Jahren soll FRONTEX weiter massiv ausgebaut werden (der Etat 2021-27 sieht 11 Milliarden Euro für FRONTEX vor). Diese Etat-Erhöhungen stehen exemplarisch für das Versagen Europas in Bezug auf die humanitäre Krise entlang der „Balkanroute“. Anstatt auf die humanitäre Situation in Camps und Squats zu antworten oder sich für die Durchsetzung von EU-Recht in Bezug auf Pushbacks oder humanitäre Arbeit einzusetzen, zeigt die EU ihren moralischen Bankrott: Indem sie zunehmend selbst zur Akteurin in einem unmenschlichen Regime wird.
Du willst selbst aktiv werden?
Wenn du Lust hast, mit uns gemeinsam das Thema „Balkanroute“ auf die politische Agenda zu bringen, dann melde dich bei uns! Wir freuen uns über die Unterstützung von Menschen, die motiviert sind, sich und andere über die Situation vor Ort zu informieren, sich in politische Debatten einzumischen, Veranstaltungen zu planen und kreativen Protest zu organisieren.
Vorerfahrungen oder besondere Qualifikationen sind dabei kein Muss. Jede*r kann einen Unterschied machen und als Gruppe ergänzen wir uns, um gemeinsam die Politik zum Handeln zu zwingen.